04.12.2020

Flüchtlinge im Nord-Irak - zwischen Corona und Heimweh

In den Flüchtlingscamps im Nord-Irak leben noch immer Hunderttausende Flüchtlinge. Die NRZ will ihnen helfen und ruft zu Spenden auf.

Dieser Artikel wurde auf nrz.de veröffentlicht:
https://www.nrz.de/region/niederrhein/fluechtlinge-im-nordirak-zwischen-corona-und-heimweh-id231075042.html

In den dunklen Haaren und dem akkurat geschnittenen schwarzen Bart von Shero Smo haben sich graue Strähnen eingeschlichen. Es war ein hartes Jahr für den jungen Mann, der seit vier Jahren das Flüchtlingscamp Mam Rashan im Nordirak leitet. Zu der ohnehin schweren Bürde der Verantwortung für die fast 9000 Menschen, die im Camp leben, ist die Corona-Pandemie gekommen. 2020, sagt er, „war einfach ein furchtbares Jahr“.

Mam Rashan. Das ist das Flüchtlingscamp in der Nähe der kurdischen Stadt Dohuk, in dem auch das „ Flüchtlingsdorf NRW “ liegt, das die Leserinnen und Leser der NRZ seit Jahren unterstützen.

Die Menschen im Camp sind Jesiden

Die Menschen, die in diesem Camp leben, sind Angehörige der jesidischen Minderheit, denen die muslimische Mehrheitsgesellschaft im Irak schon seit Jahrhunderten mit Argwohn begegnet. Sie seien Teufelsanbeter, wird geraunt. Immer wieder schlägt der Argwohn in mörderischen Hass um.

Zuletzt war es im Sommer 2014 soweit, als die Fanatiker des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS) ihr Terrorkalifat errichteten und die Shingal-Region im äußersten Nordwesten des Irak überrollten. Die Region mit dem gleichnamigen Gebirgszug ist die Heimat der Jesiden. Tausende wurden in diesem Sommer vor sechs Jahren ermordet oder entführt, Hunderttausende flohen.

Obwohl der IS längst kein eigenes Territorium mehr beherrscht und wieder nur im Untergrund aktiv ist, sind nur wenige Flüchtlinge in ihre Heimat zurückgekehrt. Allein in der Provinz Dohuk, die ursprünglich 1,4 Millionen Einwohner zählte, leben noch 550.000 Flüchtlinge, viele davon in den 21 Camps. 90 Prozent von ihnen sind Jesiden. Aber der Leidensdruck wächst.

„Als die Corona-Krise begann, haben viele Flüchtlinge, die als Tagelöhner in der Gastronomie oder in der Landwirtschaft arbeiteten, ihren Job verloren“, erzählt Shero Smo in einem Skype-Interview, das er aus einem Wohncontainer führt. Der Container ist seit vier Jahren das Zuhause von Issa Aamar Qasim und seiner Familie. Qasim, Jahrgang 1951, ein Mann mit aschblondem Schnurrbart und Haar, stammt aus Tel Benat, einer Kleinstadt südlich des Shingal-Gebirgszuges.

Qasim lebt mit seiner Frau und sieben seiner acht Kinder im Camp. Er sitzt auf einer Matratze an der Wand des spärlich eingerichteten Zimmers und erzählt mit rauer Stimme von den acht Wochen im Frühjahr, als sie den Container wegen Corona nicht verlassen durften , davon, wie er seine Arbeit bei einem Bauern verloren hat. Er wirkt erschöpft. „Ich kann nicht mehr. Wir wollen zurück“, sagt er. „Ich will wieder Schafe hüten und mein Feld bestellen.“

Rückkehr nach Shingal: Wir brauchen Sicherheit

Vor zwei Wochen sind 6000 irakische Polizisten nach Shingal verlegt worden. Für Qasim ist das ein Hoffnungsschimmer. „Wir brauchen Sicherheit“, sagt er. Sein Schwiegersohn wurde von den Terroristen ermordet, in den vergangenen Jahren trieben in Shingal unterschiedliche Milizen ihre Machtspiele. Immer wird die Region von der Türkei bombardiert. Versauern im Camp oder nach Shingal ins Ungewisse?

Qasim hat abgewogen und entschieden. Er will jetzt in der kommenden Woche mit seiner Familie nach Tel Benat fahren, sein Haus reparieren, die Lage sondieren. „Vielleicht bleiben wir dann für immer.“

Längst nicht alle Flüchtlinge sind so wagemutig. „Viele haben immer noch zu viel Angst“, sagt Campleiter Shero Smo. Für diejenigen, die zurückkehren, rücken sofort neue nach ins Camp. Ein Wohncontainer ist besser als ein Rohbau. Der junge Campleiter berichtet, dass es in Mam Rashan bereits sechs Corona-Fälle gegeben habe. Ein Albtraum.

Würde sich das Virus unkontrolliert im Camp ausbreiten, wäre das eine Katastrophe. Es gibt aber kaum Testmöglichkeiten, eine Lieferung von Masken und Desinfektionsmitteln, die die Caritas Flüchtlingshilfe in Essen organisiert hatte, ist aufgebraucht.

Und immer mehr Flüchtlinge sind misstrauisch. „Es gibt in den sozialen Medien Gerüchte, man werde ins Krankenhaus nach Dohuk gefahren und dort totgespritzt, wenn man positiv getestet wird“, erzählt Smo. Die Folge: Menschen mit Symptomen melden sich nicht.

Die Fluchtursachen bekämpfen

Die Stimmung im Camp ist auch gedrückt, weil sie hier in diesem Jahr nicht Cejna Ezi feiern können, das „Fest zu Ehren Gottes“, bei dem normalerweise nach dreitägigem Fasten getanzt, gesungen und geschmaust wird. Eigentlich würde das Fest am 15. Dezember gefeiert. „In diesem Jahr fällt es wegen Corona aus“, sagt Smo. Was seine Leute brauchen? „Medizin, Kleidung für die Kinder und Lebensmittel.“

„Die Wirtschaft in Kurdistan liegt wegen der Corona-Krise am Boden“, sagt Shairzid Thomas, der Nordirak-Beauftragte der Caritas Flüchtlingshilfe. „Die Regionalregierung ist mit den laufenden Kosten für die Camps überlastet und braucht Unterstützung.“ Deswegen wirbt er um Hilfe: „Wir wollen Lebensmittel und Corona-Schutzausrüstungen kaufen, um die Situation der Flüchtlinge zu verbessern.“

Den Menschen vor Ort zu helfen, sagt Thomas, sei das Beste. „Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen.“

---

Die Caritas Flüchtlingshilfe Essen (CFE) führt seit etlichen Jahren Hilfsprojekte im Nordirak durch. Die Leserinnen und Leser der NRZ haben dabei immer wieder Unterstützung geleistet.

In diesem Jahr sammelt die CFE für Lebensmittel, Kinderkleidung und Corona-Schutzausrüstung für die Menschen in den Camps. Außerdem hilft die CFE Menschen, die in die Shingal-Region zurückkehren, indem sie ihnen Gewächshäuser und Wassertanks baut.

  • Konto: DE45 3606 0295 0000 1026 28
    Bank im Bistum Essen
  • Stichwort: Nordirak