22.10.2019

SZ unterstützt zwei Flüchtlingscamps im Nord-Irak

Die Camps Mam Rashan und Sheikhan werden seit mehreren Jahren von Leserinnen und Lesern der „Schwäbischen Zeitung“ unterstützt.

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Stolz zeigt Qahtan Khalil auf die Kisten mit Okraschoten, Gurken, Paprika, Auberginen und Zwiebeln. Der 28-jährige Jeside, der 2014 nach dem Angriff der Terrormiliz IS auf seine Heimatregion im Shingalgebirge fliehen musste und seither mit seiner Familie im Flüchtlingscamp Mam Rashan im Norden Kurdistans lebt, hat das Gemüse in einem großen Gewächshaus geerntet.

Ein Gewächshaus mit einer besonderen Geschichte: „Dieses Projekt haben die Leser der Schwäbischen Zeitung in der Weihnachtsaktion 2017 ermöglicht“, steht auf den Schildern, die an den Gewächshäusern angebracht sind. Je zwei Familien teilen sich ein Haus: „Ich bin sehr froh, dass wir hier Arbeit und Auskommen haben“, sagt Qahtan Khalil. „Mit dem Erlös aus dem Verkauf des Gemüses können wir unseren Lebensunterhalt finanzieren.“

„Ich bin sehr froh, dass wir hier Arbeit und Auskommen haben.“
- Qahtan Khalil

Rückblick auf das Jahr 2014: Im Kampf gegen die Extremisten werden im Irak große Teile des Landes zerstört. Besonders hart trifft es den Norden und Westen des Landes. 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge vor allem aus Shingal und Mossul führen seither ein notdürftiges Leben fern der Heimat. Die Camps, in denen die Flüchtlinge leben, sind extremen Wetterbedingungen ausgesetzt. Im Winter gibt es viel Niederschlag und die Temperaturen sinken fast bis zum Gefrierpunkt, im Sommer kann es bis zu 50 Grad heiß werden.

Für die Bewohner von zwei dieser Camps – Mam Rashan und Sheikhan, in denen fast ausschließlich Jesiden leben – spenden die Leserinnen und Leser der „Schwäbischen Zeitung“ seit zwei Jahren für acht unterschiedliche Teilprojekte, die die bescheidene Lebensqualität verbessern.

Neben den Gewächshäusern sind in Zusammenarbeit mit einer Essener Flüchtlingsinitiative und dem Diözesancaritasverband Rottenburg-Stuttgart Wohncontainer, Ladenzeilen, ein Spielplatz, ein Fußballplatz und ein Jugendzentrum entstanden. Schulkinder sind mit warmer Kleidung, Stiften, Taschen und Heften ausgestattet worden. Und Psychotherapeuten leisten missbrauchten Frauen und Kindern professionelle Hilfe.

In Mam Rashan leben 8800 Menschen, in Sheikhan 4800. Die Hälfte des Erlöses der Weihnachtsaktion 2018 soll wieder dorthin fließen „Wir sind unseren Freunden sehr dankbar, dass sie sich so zuverlässig engagieren“, lobt Shero Smo. Der 33-Jährige ist seit zwei Jahren Campleiter in Mam Rashan: „Kommt mit, ich zeige euch, was wir mit dem Spendengeld umgesetzt haben, wie wir gemeinsam Fluchtursachen angehen.“ Ein Rundgang durchs Camp beginnt.

Schon nach wenigen Metern beginnt das „Schwäbische Dorf“: 19 Wohncontainer, finanziert aus den Geldern der Weihnachtsaktion 2016, in denen jeweils eine Familie auf 25 Quadratmetern lebt. Beispielsweise die heute 33-jährige Witwe Zaar Gir, die sich mit ihren fünf Kindern im Container „Aalen“ eingerichtet hat.

Sie musste im August 2014 vor den IS-Kämpfern fliehen, wie fast alle Flüchtlinge hier. Mam Rashan könnte Zaar Gir für lange Zeit Zuflucht bieten, denn an eine Rückkehr ins Shingalgebirge ist wegen der unsicheren politischen Verhältnisse nicht zu denken. Kleine Gärtchen vor den Containern beweisen: Zaar Gir und ihre Nachbarn haben sich aufs Bleiben eingerichtet.

Schnellen Schrittes geht Campleiter Shero Smo zu einer Ladenzeile, die aus Mitteln der Weihnachtsspendenaktion 2016 errichtet und 2017 erweitert wurde. Dort sind unter anderem ein Friseur, eine kleine Elektrowerkstatt, ein Schneider und ein Geschäft für Haushaltswaren zu finden. Besonders beim Friseur herrscht Hochbetrieb: „Die Menschen hier lassen sich nicht hängen, obwohl sie keine guten Perspektiven für ihre Kinder und sich sehen, sondern geben ihrem Alltag Struktur, so gut es geht“, sagt Smo.

Für sehr viel Struktur sorgen die Lehrer in den beiden Schulen. Eine ist für arabisch sprechende Kinder, die andere für kurdischsprachige. Die Drittklässlerinnen Rewaz, Naze, Gule, Beriwan und Nazdar freuen sich über den Besuch aus Deutschland. Sie wollen wissen, wie der Besucher heißt: „Hello, what’s your name?“ Hier wird im Zweischichtbetrieb unterrichtet, auch das Lehrerzimmer soll in ei- nen Klassenraum umgewandelt werden.

„Die Menschen hier lassen sich nicht hängen, obwohl sie keine guten Perspektiven für ihre Kinder und sich sehen, sondern geben ihrem Alltag Struktur, so gut es geht.“
- Campleiter Shero Smo

„Ohne eure Hilfe könnten wir den Kindern keine Stifte oder Hefte geben“, sagt Smo. Bildung schaffe die einzige Perspektive, das Camp irgendwann einmal verlassen zu können, um eine eigene Existenz aufbauen zu können. Doch in Mam Rashan können die Schüler nur bis zur sechsten Klasse unterrichtet werden, die nächste weiterführende Schule ist in der Kleinstadt Sheikhan, etwa 20 Autominuten entfernt: „Die meisten Eltern können sich das Bus-ticket für ihre Kinder nicht leisten“, informiert Smo.

Integration durch Sport

Schulschluss. Jetzt haben die Kinder und Smo, der seinen Rundgang gut geplant hat, das gleiche Ziel: den neuen Spielplatz. Erbaut im Sommer 2018, haben die 2000 Kinder im Camp ihr kleines Paradies bekommen. Khalaf Ali Zelfo schließt die Eingangstür auf, er ist für Sicherheit und Sauberkeit auf dem Spielplatz verantwortlich.

Gleich nebenan: der Fußballplatz. Auf dem kicken mittlerweile nicht nur die ersten jesidischen Frauenmannschaften, auch haben sich Mannschaften aus dem Camp und aus den umliegenden Ortschaften zu Fußballligen zusammengefunden. „Beide Projekte waren nur möglich, weil die Leserinnen und Leser der Schwäbischen Zeitung so großzügig sind“, sagt Campleiter Smo und ergänzt: „Ich bin mir sicher, dass der Spielplatz und der Sportplatz dazu beitragen, dass wir hier Tag für Tag mehr ein Stück Normalität leben können.

Mit dieser Einschätzung kann Smo sich auf Professor Paul Plener, leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Ulm, berufen. Er hält es für sehr sinnvoll, wenn Flüchtlinge wie im Camp Mam Rashan sich sportlich betätigen können. Beim Sport entstehe das Gefühl, „wieder Stärken ausspielen zu können“, sagt Plener: „Das ist etwas sehr Positives und eine wesentliche Grundvoraussetzung, wenn es darum geht, Stabilität wiederzuerlangen.“

Der Rundgang ist zu Ende, die Besucher brechen auf. Und treffen auf Qahtan Khalil. Er arbeitet immer noch an seinem Gewächshaus. Khalil hat in Sheikhan seine Okraschoten und seine Gurken, die Paprika, die Auberginen und die Zwiebeln verkauft. Nun schaut er nach den Pflanzen und dem Gemüse, mit dem er am nächsten Tag auf den Markt aufbricht: „Das wird wieder ein guter Tag, der uns ein wenig mehr Freiheit bringt.“